Gehörst du zu den wenigen wütenden Frauen? Oder bist du vielleicht eine Frau, die niemals wütend ist? Eine Frau, die ihre Wut gar nicht kennt?
Inhalt
ToggleSchlaftrunken stolpere ich aus dem dunklen Kinderzimmer, wo ich gerade 90 Minuten Einschlafbegleitung meiner Tochter hinter mich gebracht habe. Sie hat noch so viel zu erzählen, möchte singen und kuscheln, aktive gemeinsame Zeit genießen. Und ich? Ich brauche Ruhe. Ruhe nach einem vollgepackten, turbulenten und arbeitsreichen Tag mit Kleinkind. Endlich vernehme ich die gleichmäßigen tiefen Atemzüge meiner Tochter und schleiche mich aus dem Zimmer. Erleichtert. Der Abend gehört mir!
Und im Wohnzimmer begrüßt mich: Chaos! Das Abendessen ist weder abgeräumt, noch ist gelüftet geschweige denn die restlichen Spielsachen aufgeräumt. Da spüre ich sie in mir hochsteigen: ätzende, gluckernde und verzweifelte Wut, die ich ca. 36 Jahre meines Lebens nicht gespürt habe. Ich schlucke hart, balle kurz die Fäuste oder kneife die Augen zusammen und atme sie langsam weg. Denn ich mag dieses Gefühl nicht. Ich sehe mich nicht als wütende Frau. Ich habe Verständnis für andere. Und zwar immer und überall.
Dass diese Denkweise keineswegs nur meine individuelle ist, im Gegenteil einen Großteil der Menschen und vor allem Frauen in unserer Gesellschaft betrifft, wird in zahlreichen journalistischen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen mehr als deutlich.
1. Was ist Wut? - Definitionsversuche
Es gibt in der Wissenschaft unterschiedliche Ansätze Wut zu erklären. Ich möchte mich hier wirklich kurz fassen, denn dies soll kein wissenschaftlicher Artikel werden, sondern dich persönlich anregen über deinen ganz individuellen Ausdruck von Wut nachzudenken.
Also, los:
Nach Freuds Triebtheorie verfügt jeder Mensch über einen angeborenen Aggressionstrieb, der selbstverständlich Wut mit einschließt.
Dann gibt es noch die Frustrations-Aggressions-Theorie, die Wut als sekundäres Gefühl und Reaktion auf ein nicht ausgelebtes Gefühl wie Frust z.B. proklamiert.
In der Lerntheorie nach Bandura wird Wut hingegen als erlerntes Verhalten nach Vorbildern und Erfahrungen definiert.
Verena Kast geht etwas differenzierter auf die unterschiedlichen Emotionen ein, die Wut verdecken können oder verschiedene Intensitäten des gleichen Gefühls ausdrücken. Sie spricht von Emotionsfeldern mit vielen verwandten Emotionen. Dazu zählen in unserem Fall Ärger, Wut, Zorn, Geringschätzung, Abwertung, Ekel. Das sind alles Ausdrücke für die unterschiedliche Heftigkeit unseres Gefühls. Oft versteckt sich unser Ärger aber auch hinter anderen Emotionen wie Trauer, Irritation o.ä. (vgl. Kast)
Und dem Therapeut Robert August Masters ist es noch wichtig klarzustellen, dass Aggression immer eine angreifende Energie hat, während Wut, gleichgültig wie feurig sie hervorgebracht wird, eine Qualität von Mitgefühl, Verletzlichkeit und Sensibilität in sich tragen kann, in welcher die Liebe für das Gegenüber nicht verloren geht.
1.a. Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher Wut
Wütende Frauen sind gefährlich für die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen. Denn Wut ist eine brennende Motivation zur Veränderung. Sie treibt den Wandel voran und prangert Ungerechtigkeit an.
Männer dürfen wütend sein, denn ihre Wut hat vermeintlich nicht mit ihrem Charakter zu tun, ist nur Ausdruck von Ungerechtigkeit im Außen und so sind Männer eben. (vgl. Hoeder)
„Ich bin nicht wütend. Ich bin eher traurig.“ erklärte meine beste Freundin am Telefon als ich sie fragte: wann warst du das letzte Mal wütend? Neun von zehn Frauen antworten: Ich bin nicht wütend. Nie und nimmer? Doch schon, aber halt nicht so richtig wütend.“ (Hoeder, S. 28)
Die Frage die bleibt ist: Wütende Frauen? Wie kann eine Frau eine gute Beziehung zu sich und ihrer Wut aufbauen, wenn sie nie den Raum erhält die eigene Art des Ärgers zu schmecken?
2. Wütende Frauen in der Geschichte
Wut wird als böses, schlechtes und zerstörerisches Gefühl gesehen. Wütende Frauen wurden in der Geschichte schon immer bestraft für ihre Wut, etwa mit Schandmasken, Hexen, die verbrannt wurden oder wütende Frauen, die als verrückt und hysterisch bezeichnet und weggesperrt wurden.
Wütende Frauen verlieren an Ansehen, werden verurteilt und ausgelacht und als unsympathisch empfunden. Männer dagegen wirken dann eher stark und durchsetzungsfähig.
Wir lernen nicht mit unserer Wut umzugehen, sie auszuleben, Das beginnt bereits im frühen Kindesalter, wenn v.a. Mädchen ihre Wut abgesprochen wird („Nanana, da musst du aber nicht wütend werden, du bist doch schon ein großes Mädchen“ o.ä.). Zudem fehlen meist die Vorbilder über einen gesunden Umgang mit Wut. Weibliche Wut wird als egoistisch abgestempelt und passt nicht zu der Selbstlosigkeit mit der frau sich um andere kümmern soll.
Wütende Frauen betreiben oft das sogenannte Self-Silencing, sie stellen ihre Bedürfnisse immer hinten an und zensieren Gefühle und Gedanken. So lernen auch Mädchen schon früh ihre Wut zu unterdrücken. Im schlimmsten Fall kann das zu ernsthaften Problemen und sogar Depressionen führen.
Werden wir dann doch mal wütend wird meist eher über unsere Art des Ausdrucks dieser Wut diskutiert anstatt auf den Grund und Inhalt dieses Gefühls zu hören. Es gibt zwei einigermaßen akzeptierte Formen weiblicher Wut: die altruistische und die mütterliche. Interessanterweise geht es bei beiden eher um Ungerechtigkeiten, die andere Menschen betreffen und nicht etwa uns selbst.
In bestimmten Kontexten findet sogar bis heute eine Umkodierung der Wut hin zu Mut statt, um die weibliche Wut sozial verträglicher zu machen.
3. Die Chancen, die in unserer Wut liegen
3.a. Warum Wut wichtig ist!
Wut ist als wichtiges Warnsystem anzusehen. Das Gefühl macht deutlich: Hey, hier stimmt was nicht!
Das Problem mit unterdrückter Wut ist, dass sie uns trennt voneinander, dazu führt dass wir uns allein fühlen mit unseren Problemen, obwohl diese vielleicht sehr viel größer sind als wir selbst (Hoeder S.10). Stillstand ist ein Ergebnis von nicht gelebter Wut.
Hören wir einmal genau hin, in welchen Situationen und aus welchen Gründen unsere Wut an die Oberfläche drängt, werden häufig tieferliegende problematische Strukturen sichtbar.
„Wütend zu sein ist eine Kunst. Es ist ein Zusammenspiel daraus, für sich einzustehen, identifizieren zu können, warum man wütend ist und die Wut so zu modulieren, dass sie der aktuellen Situation entspricht.“ (Hoeder S. 82f) Wut könnte also auch als Teil der Selbstliebe angesehen werden.
Wow, kurze Atempause. Das sind so viele Informationen! Und wenn es dir geht wie mir noch vor wenigen Jahren, dann sind viele Gedankenanstöße, die ich dir hier gebe, komplett neu. Also: mach dir gerne Notizen, was das alles für dich bedeuten könnte und nimm wahr, wie sich deine Perspektive auf Wut verändert.
Wut bzw. Ärger, wie Verena Kast es definiert, bringt uns immer wieder in die aktive Auseinandersetzung mit unserem Selbstwertwert, mit persönlichen und gesellschaftlichen Grenzen und fordert sogar Empathie und Achtsamkeit in Beziehungen wieder herzustellen. Sie ist ein Motor für Veränderung und sobald wir Wut zulassen und reflektieren, glauben wir auch daran, dass Veränderung möglich ist.
3.b. Woher kommt die Wut?
Wollen wir unserer eigenen Wut auf die Schliche kommen, gilt es zunächst zu erkennen, wie sich Wut für uns ganz individuell anfühlt. Das ist nicht immer einfach, denn häufig ist unsere Wut vermischt mit anderen Gefühlen wie Verletztheit, Schmerz, Ohnmacht, Frustration, Verwirrung, Angst.
(Im Coaching würden wir z.B. an dieser Stelle eine konkrete Situation detailliert „aufdröseln“ und in die verschiedenen Emotionen, Gedanken und Muster zerlegen)
Die starke Empfindung könnte von sehr unterschiedlichen Orten herrühren, so könnte es unser inneres Kind sein, das auf alte Wunden hinweist; es könnte auch unser erwachsenes Ich sein, das versucht Verletzungen zu vermeiden; auch eine tiefes Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Wahrheit könnte die Quelle unserer Wut sein. Egal, wo der Ursprung in der jeweiligen Situation zu finden ist:
Wut ist eine Beschützerin. Beschützerin unserer Grenzen, unseres Herzen, unserer Integrität, unserer eigenen Wahrheit.
3.c. Wut als Geschenk
In diesem Abschnitt möchte ich mich auf die Lehre der „gewaltfreien Kommunikation“ (kurz GfK) nach Marshall Rosenberg berufen, da dieser Ansatz mich bereits seit Jahrzehnten begleitet im Umgang mit eigenen Emotionen und auch in der professionellen Arbeit.
„Unsere Wut ist ein Geschenk, das uns mit unseren unerfüllten Bedürfnissen verbindet, die eine solche Reaktion bei uns ausgelöst haben.“ (Rosenberg, S. 6)
GfK unterstützt die Wahrnehmung von Wut als Alarmsignal. Es ist wichtig Auslöser und Ursache zu unterscheiden, das Verhalten anderer kann Auslöser sein, die Ursache liegt aber immer in mir selbst und meinen Bedürfnissen. Wenn mir also ein Freund wochenlang nicht auf eine wichtige Frage antwortet, werde ich vielleicht wütend. Das ausbleiben der Antwort ist aber nur der Auslöser. Die Gedanken und Bewertungen, die in meinem Kopf entstehen, sind als Ursache zu betrachten, wie z.B. ich bin ihm wohl nichts wert, ich fühle mich respektlos behandelt etc.
Es sind also wie immer in der GfK 4 Schritte, die wir zum konstruktivem Ausdruck von Wut brauchen:
1. Auslöser identifizieren
2. individuelle Bewertung als Verursacher der Wut erkennen
3. Bedürfnis suchen, das hinter der Wut steht
4. Kommunikation darüber was welches Gefühl ausgelöst hat, welches Bedürfnis dahinter steht, verknüpft mit einer konkreten Bitte.
Wut und Ärger entstehen durch Bewertungen, wir sind dann nicht verbunden damit was wir oder andere brauchen. Emotionen sollen uns dazu anregen in Verbindung mit unseren Bedürfnissen zu kommen, sie sollen der Erfüllung unserer Bedürfnisse dienen. „Wut und Ärger werden hingegen dann ausgelöst, wenn wir von unseren Gefühlen abgelenkt sind und unseren Gedanken folgen.“(Rosenberg, S.19) Blicken wir also hinter den ersten Wut Impuls und nehmen die Wut als Warnsignal ernst, können wir uns wieder mit uns und unseren Bedürfnissen verbinden und wir werden nicht mehr wütend sein.
Wenn Aggression der Schatten der Wut ist, sind Klarheit, Kraft, Leidenschaft und Mut die verborgenen Geschenke, die sich zeigen, wenn diese Energie in ihrer reinen Form fließen darf.
4. Wie wir lernen unsere Wut auszudrücken
Wie eben bereits ausgeführt, ist der Ausdruck von Wut nach GfK mit dem Hinterfragen der eigenen Bewertungen und auch Bedürfnissen verbunden.
Gerne dürfen wir auch auf physischer Ebene in uns reinfühlen:
Wo im Körper ist die Wut spürbar? Wo ist die Energie blockiert? Wo sitzt die wütende Frau in uns?
Die Aufgaben eines Emotionstrainings zum Aufbau einer funktionalen Emotionsregulation sind (Sulz & Sulz 2005):
1. Aufgabe: Ich erlaube mir, wütend zu sein, denn Wut ist kein schädliches Gefühl.
2. Aufgabe: Ich mache die Erfahrung, dass meine Wut nicht sofort unkontrolliert in die Welt hinaus geht, sondern erst mal in mir als Gefühl drin bleibt, also keinen Schaden anrichtet.
3. Aufgabe: Ich erkenne meine vielfältigen Vermeidungsmechanismen, meine Wut zu unterdrücken, z.B. Verständnis für den Gegner haben, total vernünftig sein, sich ohnmächtig fühlen, sich schuldig fühlen oder Angst bekommen.
4. Aufgabe: Mit professioneller Begleitung, unterlasse ich diese Wutvermeidungen immer öfter.
5. Aufgabe: Ich lerne meine Wut wirksam als Kraft und Energie für mich einzusetzen.
Wütende Frauen sind häufig nicht sichtbar, denn unterdrückte Wut kostet uns sehr viel Lebensenergie. Sie kann belasten und müde machen. Einen gesunden Ausdruck der eigenen Wut zu finden, kann demnach Energien freisetzen und Beziehungen stärken.
5. Was wir unseren Töchtern mitgeben dürfen
Hier kommt nochmal kurz und knackig, was wir über Wut und wütende Frauen gelernt haben:
Deine Wut ist wichtig! Deine Wut darf da sein und Ausdruck finden! Es darf wütende Frauen geben!
Wut hängt eng mit anderen Emotionen zusammen
Männliche und weibliche Wut sind gesellschaftlich sehr unterschiedlich konnotiert
Wut ist ein wichtiger Motor für Veränderungen! Wir dürfen sie uns nicht absprechen lassen, unsere Wut nicht gesellschaftlich diskreditieren lassen.
Wut ist ein Weckruf. Sie verhindert, dass ich mit meinen Bedürfnissen verbunden bin.
Wut hat immer mit Selbstwert zu tun. Auch der Gedanke an Ablehnung kann bereits Wut in uns auslösen. Es ist unsere Bewertung der Situation / des Gegenübers, die Wut auslöst. Häufig gegründet auf Erfahrungen aus der Vergangenheit
Wut zeigt Grenzen auf. Sie hat eine beschützende Energie.
Unterdrückte aufgestaute Wut kann uns sehr viel Energie rauben oder auch zur total unverhältnismäßigen Eskalation führen oder sich nach innen, gegen uns selbst richten.
Es ist möglich Wut konstruktiv und in Verbundenheit mit sich selbst und dem Gegenüber auszudrücken.
Es ist so wichtig, dass wir alle unsere persönliche Wut kennenlernen, reflektieren und damit umgehen, damit wir unseren Kindern und Mitmenschen ein gutes Vorbild sein können und die tief eingebrannten Überzeugungen Wut sei etwas „schlechtes, gar verbotenes“ transformieren können.
6. Und nun? Wütende Frauen oder unterdrückte Emotionen?
Wenn dir das noch nicht genug Denkanstöße waren, kommen hier noch ein paar Fragen, die dich auf deinem persönlichen Weg im Umgang mit deiner Wut unterstützen können:
In welcher konkreten Situation hast du deine Wut gespürt?
Wie hat sie sich angefühlt?
Welche anderen Gefühle waren da noch?
Woher kanntest du diese Empfindungen bereits?
Was war dein allererster Impuls, als die Wut hochkam?
Welchen Glaubenssatz / welche Überzeugung kam dir in den Kopf?
Wie hast du tatsächlich gehandelt und warum? Welches Bedürfnis hast du dir erfüllt?
Wann hast du deine Wut einmal zugelassen / ausgelebt?
Wie hat dein Umfeld darauf reagiert?
Was hast du daraus gelernt?
Was ist Wut für dich?
Was soll Wut in Zukunft für dich sein / bedeuten?
Was möchtest du deinen (zukünftigen) Töchtern vorleben?
Das war heute mal ein etwas ausführlicherer und wissenschaftlicherer Artikel als sonst. Das Thema ist so komplex und dabei halte ich es für so so wichtig, dass gerade wir Frauen uns damit auseinandersetzen und anfangen aufzuräumen mit antiquierten Überzeugungen und aufhören uns selbst zu verurteilen für unsere Empfindungen. Ich hoffe sehr dieser Artikel konnte dich ein wenig in diese Richtung inspirieren.
Alles Liebe,
deine Frauke
7. Quellen
Hoeder, Ciani-Sophia: Wut und Böse, hanserblau in der Carl Hanser Verlag, München 2021
Rosenberg, Marshall B.: Was deine Wut dir sagen will: überraschende Einsichten, Junfermann Verlag, Paderborn 2007
Amlinger, Dr. Fabienne: „Wut und Feminismus“, genderstudies-Zeitschrift des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung (abgerufen am 31.01.2022)
Kast, Verena: Vom Sinn des Ärgers, Kreuz Verlag, Stuttgart 2005
Sulz, Prof. Dr. Dr. Serge K.D.: „Wo Angst ist, soll Wut werden – oder: Wut ist unsere vitale Kraft“, 2019 (abgerufen am 31.01.2022)
Wiese, Tim: „ Emotionsforschung – wer Wut unterdrückt, kann depressiv werden“, Deutschlandfunkkultur 2019 (abgerufen am 31.01.2022)